Die Leinwand auf dem Boden ist bedeckt mit Farbtupfen. Kräftige Töne, nichts Zaghaftes. Schicht für Schicht wird Tina Reichel die Farben auftragen, sie ineinander fließen lassen, bis eine Fläche entsteht, die mehr Atmosphäre ist, als Bild. Andere Arbeiten im Atelier sind konkreter. Man blickt auf den monumentalen Kuppelbau der Kathedrale von Florenz. In leuchtendem, auf den ersten Blick irgendwie irritierendem Orange, aber die Silhouette ist erkennbar. Ich liebe, sagt Künstlerin Reichel, diesen Ort. Das Erhabene seiner Architektur, das Vollkommene, das Ewige. Sie in dieser poparthaften Farbigkeit zu malen, entspricht gewissermaßen der Empfindung, die der Anblick der Kathedrale auf Besucher macht. So raumgreifend, so dominant.

Andere Bilder im Studio zeigen andere Städte. Der Big Ben in London; der Times Square in New York; das Burj Kalifa in Dubai... Architektur, die Orte prägt. Dafür hat sie eine Schwäche. Weil Architektur einen Ort markiert, sie ist mehr als nur das Gesicht einer Stadt. Zum Brandenburger Tor zieht es sie zum Beispiel immer wieder, zu seiner Klarheit und seiner Symbolik. Für sie ist dieser Ort untrennbar mit Mauer und Mauerfall verbunden, und damit mit ihrem eigenen Lebenschancen in einer offenen Welt. Architektur spiegelt auch Geschichte einer Stadt, ihre Tragik, und manchmal ihren Größenwahn.
Durch die hohen Atelierfenster flutet Tageslicht. Am Abend, wenn die Dämmerung die Konturen aufweicht, beginnen die Bilder ihr zweites Leben. Tina Reichel arbeitet mit fluoreszierenden Acrylfarben und UV-Licht. Der Effekt ist verblüffend. Die Bilder leuchten, gewinnen eine Dimension hinzu, die Architektur tritt plastisch aus dem Bild heraus.
In ihrem ersten Berufsleben hat Tina Reichel all die Orte auf ihren Bildern besucht. Als Vertriebsdirektorin eines Hotelkonzerns lebte sie lange aus dem Koffer. Dubai, Moskau, Paris, New York… Ein paar wenige Nächte, dann ging es weiter. Gut möglich, dass es ihre Sinne für die Silhouette eines Ortes geschärft hat. Für die Rastlosigkeit der Zeit, die Menschen von Hotel zu Hotel treibt, die beim Reisenden nicht viel mehr als einen grundhaften Eindruck hinterlässt.
Seit 2008 lebt sie als freie Künstlerin in Erfurt. Eine akademische Ausbildung hat sie nie gehabt, aber Stift und Block waren in den eiligen Managerjahren stets dabei. Malen als grundhafte Kraft, die treibt. Irgendwann, sagt sie, musst du dich entscheiden. Sie ist Saalfelderin, zu Erfurt hat sie inzwischen eine echte Liebe entwickelt. Den Dom hat sie immer wieder gemalt. Die Monumentalität seiner hohen Mauern, die schwebende Leichtigkeit der Stufen davor. Jede Stadt, sagt sie, hat ein Herz, und in Erfurt ist es der Dom. Wer so malt wie sie, kann kein introvertierter Mensch sein. Oder doch? Lachen. Andere, bemerkt sie, würden sie wahrscheinlich als hyperaktiv beschreiben, und hätten nicht unrecht. Im Atelier steht ihre Vespa, in neonfarbenem Design natürlich, mit der sie viel unterwegs ist, sie plant Ausstellungen, konzipiert neue Projekte. Die Pandemie zwingt zum Stillstand, aber das will sie nicht hinnehmen, nicht ohne Widerspruch.
„Laut“ heißt ein wenig provokativ ihre Ausstellung, die sie morgen im Erfurter Dom eröffnen wird. Leuchtende Bilder sakraler Bauten wie der Dom von Florenz und natürlich von Erfurt. Ein Tag lang werden sie mit dem effektvollen Lichtkonzept im Langhaus zu sehen sein, dann ziehen sie in den Dachstuhl des Gotteshauses, wo auch das restaurierte Marienmosaik zu sehen ist. In ihrer, an Pop Art angelehnten, schrillen Farbigkeit mögen die Bilder auf den ersten Blick in dem historisch aufgeladenen Raum fremdeln. Aber schließlich, begründet Weihbischof Reinhard Hauke seine Zustimmung, zeigten die Bilder sakrale Gebäude und Geschmäcker seien verschieden. Und ließe sich hinzufügen, zur Kunst gehört auch Irritation. Vor allem aber, bemerkt Malerin Reichel, soll es in Zeiten, in denen Corona so viele Künstler ausbremst, eine ermunternde Botschaft sein: Sie steht nicht still, die Kunst.
Die Ausstellung wird am 3. Dezember im Erfurt Dom eröffnet, die Bilder sind bis zum 23. April 2021 zu sehen.